wer kann mir die Phillipskurve widerlegen?
kann mir bitte jemand die Phillipskurve bzw die Idee widerlegen (niemand spricht von genauern Werten, sondern einfach nur, dass in Zeiten einer steigender Inflation die Arbeitslosenquote zb. niedrig ist und andersherum)? Ich kenne die Beispiele mit Stagflation zb in den 1970ern. Meine Frage bezieht sich also auf Beispiele *abgesehen* von Stagflationsphasen. Danke im Voraus 💪
Kurze Antwort:
Ja, die ursprüngliche Philippskurve ist ein idealisiertes Modell, welches multiple Faktoren ausblendet, die zu Inflation führen. Sie gilt in ihrer ursprünglichen Form als weitgehend widerlegt bzw. unvollständig.
Ein Beispiel:
Hier die Philipskurve für Deutschland über verschiedene Dekaden:
Quelle: https://navigator.mmwarburg.de/magazin/inflation-in-deutschland-gefahr-im-verzug/
In den 1990er Jahren ist noch eine mittelmäßige Korrelation erkennbar. Im letzten Jahrzehnt ist die Residualstreuung doch ziemlich hoch, was sehr gut an der grünen Punktewolke ablesbar ist. Dies legt nahe, dass nicht-lineare Dynamiken vorherrschen und die Philippskurve mit ihrer Erklärungskraft nicht ausreicht.
Lange Antwort:
Die Philipskurve basiert auf Messpunkten, die fast 70 Jahre in der Vergangenheit liegen. Die nationalen Wirtschaftspolitiken in den USA und UK basierten weitestgehend auf dem Keynesianismus, Währungen waren noch goldgedeckt, globalisierte Märkte und wirtschaftliche Abhängigkeiten zwischen den Ländern waren erst im Aufkommen. Kurzum: Die politische und wirtschaftliche Situation ist mit der, der nächsten Jahrzehnte einschließlich heute nicht vergleichbar.
Die damals zugrundeliegende ökonomische Hypothese konnte tatsächlich anhand der einbezogenen Messpunkte bestätigt werden: Wenn Vollbeschäftigung erreicht wird, steigt die Nachfrage nach Gütern und somit Preise vor dem Hintergrund, dass das Angebot an Arbeitnehmern stets knapper wird. Anders ausgedrückt: Zwischen Inflationsrate und Arbeitslosigkeit konnte ein inverser Zusammenhang empirisch angenähert werden.
Die Stagflation der 70er Jahre hat dieses ursprüngliche Modell jedoch weitgehend falsifiziert. Dann haben sich Neoklassiker und Monetaristen aufgemacht, die Philippskurve zu modifizieren, indem sie Inflationserwartungen und das Prinzip der sog. natürlichen Arbeitslosigkeit postuliert haben. Vor allem wurde erkannt, dass zwischen den beiden Achsen der ursprünglichen Kurve auch noch eine Zeitdimension berücksichtigt werden muss: Das Preisniveau reagiert verzögert (lagging) auf die Beschäftigung und Produktivität und läuft eben nicht zeitsynchron mit ihr.
Beispiel: Die Arbeitslosenquote wird durch wirtschafts- und fiskalpolitische Maßnahmen im ersten Jahr auf z.B. 3% reduziert, was zunächst zu einem moderaten Anstieg der Inflation führt. Durch diesen initialen Anstieg (und dem einhergehenden “Fachkräftemangel”) entstehen jedoch weitere Inflationserwartungen durch die Marktakteure, höhere Löhne werden gefordert, Preise steigen usw. Dies bedeutet, dass es im 2. Jahr die Inflation weiter ansteigt und die Zentralbank die Wirtschaft schließlich mit höheren Leitzinsen auszubremsen versucht. Und dies kann eben dann zu Bustzyklen sowie Staglation führen, weil eine Art Bullwhip-Effekt entsteht.
Vollbeschäftigung bedeutet also nicht 0% Arbeitslosenquote, da die Arbeitskräfte auch zielgerichtet in eine komplexe mehrstufige Wirtschaft integriert werden müssen. Einfach formuliert: Nicht jedes Individuum kann jeden Job ausführen. So liegt die natürliche Arbeitslosenquote z.B. bei 5% – und ist sogar volatil je nach Konjunkturzyklus und internationalen Ereignissen. Etwas, was Politiker nur schwer bis gar nicht vorhersehen können. Wird diese natürliche Quote dann durch „künstliche“ Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen unterschritten, kommt es zu einer Inflationsspirale.
Die Phänomene „Inflation“ und „Zins“ sind auch heute noch die mit am meisten und am kontroversesten diskutierten. Die reduktionistische Philipskurve der 1950er Jahre ist immer noch ein guter Einstiegspunkt um die Zusammenhänge nachzuvollziehen und bietet auch eine mäßige Vorhersagemöglichkeit – jedoch nur auf kurze Sicht, da die Zeitdimension nicht berücksichtigt ist. Jedoch ist das Zustandekommen von Inflation deutlich vielschichtiger. Erwartungen spielen neben Nachfrage- und Angebotsengpässen eine wichtige Rolle (siehe Coronakrise und Ukrainekrieg). Aber auch die Geldmenge spielt im Zusammenhang größerer Ausgaben weiterhin eine Rolle (siehe Coronakrise), auch wenn sie nicht mehr gut als Frühindikator geeignet ist.
In meinen Augen ist die Quantitätstheorie dennoch das bessere Instrument als die Philippskurve, um Inflation zu erklären; auch wenn diese ebenfalls zu simplifiziert ist. Sie berücksichtigt jedoch immerhin die Produktivität und nicht nur die Beschäftigungsquote.
Die Beschäftigungsquote alleine sagt wie gesagt wenig über die tatsächliche Leistung aus. Produktivität ist gleich Output geteilt durch Arbeitseinsatz. Wenn ich Zahnärzte Gebäude bauen lasse und Bauingenieure dentale Untersuchungen durchführen lasse, habe ich eine hohe Beschäftigung, jedoch keine effiziente Mittelallokation. Und dies ist letztlich ein Treiber für Inflation.
Mehr Beispiele
Mithilfe von ChatGPT habe ich noch ein paar mehr Beispiele recherchiert, in denen keine starken negativen Zusammenhänge beobachtet werden konnten:
Japan, 1990er Jahre bis 2000er Jahre (“Verlorene Jahrzehnte”)
Eurozone, 2010er Jahre (Nach der Finanzkrise)
Vereinigtes Königreich, 2010er Jahre (Post-Brexit-Entwicklung)
Schweden, 1990er bis 2000er Jahre (Inflationszielsetzung)
Brasilien, 2010er Jahre (Nach der Finanzkrise und politische Unsicherheit)
Russland, 2014-2016 (Ölpreisverfall und Sanktionen)
Italien, 2000er bis 2010er Jahre (Strukturelle Schwäche und Eurokrise)
Hab dir einen interessanten Artikel gefunden:
https://makroskop.eu/wer-glaubt-noch-an-die-phillipskurve/
1981-2015 am Beispiel der USA wäre so eine Periode die du suchst.